ohne Titel

1991

Mietverhältnisse aufkündigen – zu den Kugeln von Diemut Schilling

von Wolfgang Ullrich

So wie jeder Mensch ein paar Gegenstände hat, die ihm besonders wichtig sind und die er unmittelbar als sein Eigentum empfindet, weil sie viel benutzt und mit zahlreichen Erinnerungssedimenten belegt sind, so hat jeder auch Bilder, Assoziationen, Gedanken und Vorstellungen, die als eigen erscheinen, weil sie – selbst wenn sie verdrängt oder von anderen belächelt werden – einprägsam immer wiederkehren, weil sich um sie herum anderes anlagert, ja weil sie zusammen mit einem altgeworden sind. Was passiert, wenn man diese Bilder und Assoziationen zu sammeln beginnt, wenn man mit seinen vertrautesten Vorstellungen so umzugehen lernt wie mit Reiseandenken, Geschenken von guten Freunden und altgedienten Gegenständen des Alltags, die man liebevoll aufbewahrt, obwohl sie vielleicht längst unbrauchbar geworden sind? Man bildet sich dann eine Lebensgeschichte, erschließt sich Ordnungen, die sich an anderen Bezugspunkten orientieren als das, was man in offiziellen Lebensläufen angibt, und es gelingt einem, die eigene Vergangenheit sinnvoller in die Gegenwart einzubetten. Und möglicherweise begreift man dabei den Unterschied zwischen dem, was man nur vererbt, abgetreten und fremderworben bei sich trägt, und dem, für das man einstehen kann und will, den Unterschied also zwischen bloßem Besitz und Eigentum.

Das Eigene muss nicht einmal das sein, was man als einziger hat, aber das, was man nicht hergeben könnte, ohne sich ärmer und flacher zu fühlen. Das meist unmerklich und manchmal auch unfreiwillig Aufgenommene dagegen empfindet man zum Teil als Last, als aggressiv und schrill, zum anderen und größeren Teil führt es dazu, dass man matt lebt, nur unscharf wahrnimmt und dass die Urteile, die man abgibt, nicht durch die eigenen Erfahrungen gedeckt sind. „Gebt zu, daß ihr nur ein von den Alten möbliertes Land bewohnt, dass eure Ansichten nur gemietet sind, gepachtet die Bilder eurer Welt“ – dieser Satz von Ingeborg Bachmann (in „Das dreißigste Jahr“) deutet auch die Aufforderung an, entweder vom nur Angenommen und Gemieteten Abschied zu nehmen oder sich nach und nach um Eigentumsrechte daran zu bemühen, ja zuerst einmal sich darüber klar zu werden, welche Bilder man gepachtet hat und wie viele einem selbst gehören, weil man sie sich geschaffen oder angeeignet, d.h. selbst erfahren hat.

Die beiden Kugeln von Diemut Schilling lassen sich als eine solche Klärung und Trennung auffassen, die, auch wenn sie ganz persönlich ist, beispielhaft die Betrachter dazu veranlassen könnte, bei sich selbst auf Ideen und Vorstellungen und die Weise, wie man sie hat zu achten. Da steht die Kugel, die auf ihren reagierten Handzeichnungen Diemut Schillings eigenen Bilderschatz zeigt, neben der Kugel, auf der sich die Welt beherrschenden Menschheitsbilder ausbreiten. Da sind einerseits also ihre Bilder, die still und wie Partikel aus dem Bereich, wo Gedanken Assoziationen und Erinnerungen noch nicht geschieden sind, aufsteigen, da sind andererseits jene sich immerzu auf- und eindrängenden, schnellen Bilder der Medien, die in immer wieder anderen Verbindungen in allen sind und die sich wie Abziehbilder benehmen, welche überall haften bleiben.
Jeweils sind die Bilder nicht zu isolieren, es gibt keine trennscharfen Vorstellungen oder Gedanken, eher ist das geistige Geschehen ein vielstimmiges Musikstück vergleichbar, wo ist neben einer Entwicklung und Verlaufsform Überlagerungen, Echos und Zwischenspiele gibt. Das Denken bewegt sich auf einer Bahn - vielleicht so spiralförmig, wie die Bildplättchen auf den Kugeln angeordnet sind –, und anderes zieht dabei immer mit und zerrt im Bewusstsein, so daß jeder Augenblick eine Vielfalt an Bildverwandten hervortreibt, denen man auf einmal unmöglich allen folgen kann. Aber es geht nichts verloren, irgendwann ergibt sich wieder die Möglichkeit, sich von einer erst abgedrängten Assoziation führen oder verführen zu lassen. Trotz aller Buntheit und einem unaufhörlichen Hin und Her besteht Ordnung, ein Kosmos im ursprünglichen Wortsinn. Nichts von dem, was auf einer Kugel ist, kann Abseits stehen: die Kugelform gewährt allen Bildern dieselben Rechte und lässt das endliche Leben insofern nicht beengt sein, als sie eine Unendlichkeit von Wegen eröffnet.

Es stimmt genau so, wie es auf den Kugeln erscheint: Die Vorstellungen und Ideen, mit den man lebt, wiederholen sich, allein die Richtung und der davor liegende Weg, von wo aus man sich ihnen nähert, ist jeweils gewandelt. Denken, Sich- Erinnern, Erleben überhaupt erweist sich als ein Herumkurven auf der Oberfläche einer Kugel; die Kopfreisen sind also an dieselbe Form gebunden wie die Weltreisen auf dem Globus.

Auf den von den Kugeln bedruckten Papierbahnen kann man Fragmente solche Kopfreisen sehen, Reisen, die entweder durch Landstriche führen, welche einem selbst gehören, oder die sich in Gegenden abspielen, die in Allgemeinbesitz sind und wo man zugleich immer auf fremd ist. In diese ist es also auch ein wenig wie in fremden Ländern, und man schwankt zwischen ermüden der und nervender Leergelassenheit einerseits und Faszination über Ungewöhnliches, Anregend-Neues oder Schockierendes andererseits. Beides macht gleichermaßen widerstandslos gegen die fremden Bilder, die einen einlullen und sich so penetrant einnisten, dass sie alles zu überwuchern drohen. Es scheint aussichtslos, sie aus einem verbannen zu wollen, und so muss man sich etwa darum bemühen, zumindest mit einigen sich individuell zu befassen. Tatsächlich kann man auf der Kugel mit Diemut Schillings eigenen Bildern manches von dem wiederfinden, was auf der Kugel der öffentlichen und allgemein Welt zu sehen ist. Oder man muss sich mit den fremden Bildern so beschäftigen, dass man sie in Zusammenhänge stellt, in denen sie sich auf einmal gegenseitig kommentieren oder erklären, ja wo man ihnen – oft mit Erkenntnisgewinn – etwas entlocken kann, was sie sonst nicht preisgeben. Eine solche Beschäftigung führt durch die Bezugssetzungen auf der Kugel mit den herrschenden „Weltbildern“ zu einer Kompensation der Fremdbebilderung, und es glückt Diemut Schilling, allein aufgrund ihrer eigenen Assoziationsweise Miteigentümerin an etwas zu werden, was sonst nur ein etwas beunruhigender Besitz ist. Die Kugeln sind so das Inbild einer schöpferischen Existenz, der ist darum zu tun sein muss, ausgehend vom bereits Eigenen sich die Welt anzueignen, und die nie damit zufrieden ist, irgendwo bloß zur Miete zu sein.